Für alle Fälle – Fallstudien

Sie sind Übersetzer und/oder Dolmetscher und planen Ihren Urlaub. Sie wollen das Land Ihrer Arbeitssprache besuchen und suchen nach einem Hotel. Da Sie sich für eine Städtereise entschieden haben, wollen Sie ein gutes bis sehr gutes Hotel in der Innenstadt buchen. Eines der Ihnen vorgeschlagenen Hotels gefällt Ihnen besonders gut – ein modernes Design-Hotel mit ausgezeichneter Anbindung an das öffentliche Nahverkehrsnetz. Zu Ihrer Überraschung entdecken Sie eine kleine Schaltfläche, über die die Inhalte der Webseite auch in Deutsch aufgerufen werden können. Sie sind neugierig – und sehr erstaunt, als die deutsche Seite angezeigt wird: Die Übersetzung scheint maschinell oder von einer Person, deren Deutschkenntnisse nicht ausreichen, übersetzt worden zu sein. Sie beschließen, die Buchung in der Landessprache vorzunehmen und sich überraschen zu lassen.

Im Hotel angekommen stellen Sie fest, dass auch alle anderen Informationsmaterialien in demselben schlechten Deutsch geschrieben sind wie die Webseite. Sie genießen Ihren Urlaub und sammeln gleichzeitig so viele Informationen wie möglich über das Hotel, denn Sie wollen sich diese Akquisechance nicht entgehen lassen.

Zurück an Ihrem Schreibtisch denken Sie darüber nach, wie Sie Ihr Angebot gestalten können. Den Ansprechpartner haben Sie während Ihres Urlaubs bereits ermittelt, aber noch keinen Kontakt aufgenommen. Sie könnten ein E-Mail schreiben, in dem Sie sich für Ihren sehr angenehm verlaufenen Aufenthalt bedanken und auf die Webseite und das Informationsmaterial zu sprechen kommen. Aber wie? Den möglichen Kunden, der womöglich stolz auf seinen fremdsprachlichen Internetauftritt ist, darauf hinweisen, dass dieser misslungen ist? Das sollten Sie keinesfalls tun, es kann dazu führen, dass Ihnen diese Tür für immer verschlossen bleibt.

Sie schreiben das E-Mail und loben die Mühe, die man sich gemacht hat, um deutschsprachigen Gästen das Angebot näher zu bringen und ihnen die Buchung zu erleichtern. Sie bieten an, dem Hotel bei zukünftigen Aktualisierungen und Optimierungen der Webseite und des Informationsmaterials zur Seite zu stehen und verweisen auf das angehängte Informationsmaterial.

Nach einiger Überlegung haben Sie sich dazu entschieden, eine Fallstudie zu verwenden, um Ihren möglichen neuen Kunden auf die Problematik seiner deutschen Webseite hinzuweisen und Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Natürlich ziehen Sie nicht das Hotel des möglichen Kunden als Beispiel heran, sondern greifen entweder auf einen anderen anonymisierten Fall aus Ihrer Praxis zurück oder Sie arbeiten mit einem fiktiven Fall. Bei letzterem müssen Sie jedoch unbedingt darauf achten, dass sich der mögliche Kunde nicht erkennt und unbedingt darauf hinweisen, dass diese Fallstudie lediglich eine Überlegung ist.

Das von Ihnen für dieses Hotel ausgearbeitete illustrative Fallbeispiel kann wie folgt aussehen[1]:

1.            Konfrontation

Sie stellen den Fall vor und das Problem dar. Sie sollten diesen Abschnitt so kurz und prägnant wie möglich halten. Ein Beispiel:

Ein internationales Unternehmen in der Hotellerie/Gastronomie beabsichtigte, seine Geschäftstätigkeit auf den deutschen Markt auszuweiten. Es gab daher eine Übersetzung seines Internetauftritts und aller Informationsmaterialien in Auftrag. Im Unternehmen beherrscht niemand die Zielsprache Deutsch, sodass die Qualität der gelieferten Übersetzung nicht weiter geprüft werden konnte. Die Übersetzung ist fehlerhaft, die Mitarbeiter des Unternehmens erhalten mehr und mehr Anfragen, die alle Inhalte der Seite und des Informationsmaterials betreffen. Die meisten Anfragen enthalten Formulierungen wie „unklar” oder „unverständlich”.

2.            Information

Hier beschreiben Sie – ebenfalls so kurz wie möglich – Ihre Kompetenz als Übersetzer und Ihre Kenntnisse in der Hotellerie/Gastronomie. Außerdem stellen Sie hier einige Überlegungen zur Planung und zur Lösung des in der ersten Phase beschriebenen Falles an. Das könnte so aussehen:

Als Fach- bzw. Diplom-Übersetzer mit langjähriger Erfahrung in der Gastronomie/Hotellerie habe ich dem Kunden angeboten, alle Inhalte des Internetauftritts und alle Informationsmaterialien neu zu übersetzen und an die kulturellen Gegebenheiten des Ziellandes anzupassen. Außerdem schlug ich vor, im zweiten Schritt das Gesamtangebot des Kunden an die Vorlieben seiner Kunden (Ausflüge, kulturelle Angebote, Freizeit- und Sportangebote) anzupassen. Mein Angebot umfasste zudem die gemeinsame Ausarbeitung einer Prioritätenliste und die Betreuung des Einpflegens der übersetzten Texte sowie die Prüfung und Korrektur der Druckfahnen.

3.            Exploration

In dieser Phase beschreiben Sie die Planung der Problemlösung, die Informationsverarbeitung, d. h. die Art der zur Verfügung zu stellenden Quelltexte, und die Methodenauswahl (ggf. CAT-Tool). Auch dieser Abschnitt sollte nicht zu lang ausfallen:

Anhand der gemeinsam erarbeiteten Prioritätenliste wurden die für das Unternehmen wichtigsten Webinhalte und Informationsmaterialien ausgewählt. Es wurde ein Zeitraum von 4 Wochen ab Auftragserteilung vereinbart, in dem die Texte übersetzt und lektoriert wurden. Es wurde weiterhin vereinbart, dass alle zu übersetzenden Texte als Word-Datei zur Verfügung gestellt würden und so mithilfe eines CAT-Tools (ggf. fügen Sie eine Fußnote mit einer kurzen(!) Erklärung ein) leicht übersetzt und lektoriert werden konnten. Dasselbe Verfahren wurde für die übrigen Texte angewendet, wobei die Lieferfrist aufgrund der im CAT-Tool gespeicherten, sich wiederholenden, Inhalte erheblich verkürzt werden konnte.

Über den mir eingeräumten Zugriff auf noch nicht veröffentlichte Webinhalte und den engen Kontakt mit der IT- und Marketing-Abteilung des Kunden konnte ich die genaue und fehlerfreie Übertragung der Übersetzungen auf die Webseiten des Kunden sicherstellen. Alle Druckfahnen wurden von mir lektoriert und gegebenenfalls korrigiert, sodass der Kunde alle Informationsmaterialien vor Ort fehlerfrei drucken lassen konnte.

4.            Resolution

In diesem Schritt begründen Sie beispielsweise Ihre Entscheidung für den Einsatz eines CAT-Tools für diesen Fall. Sie können mit allen Vorteilen eines CAT-Tools argumentieren, Sie dürfen dabei die gegebenenfalls an die Kreativität der Texte gestellten Anforderungen jedoch nicht außer Acht lassen. Auch darf keinesfalls der Eindruck entstehen, dass es sich um eine maschinelle Übersetzung handelt! Denken Sie beim Schreiben Ihrer Begründung daran, dass der Kunde sehr wahrscheinlich nicht weiß, was sich hinter einem CAT-Tool verbirgt und zu falschen Schlüssen kommen könnte.

Gehen Sie hier auch auf die Lokalisierung der Inhalte ein und begründen Sie, weshalb bestimmte Inhalte für deutsche Kunden/Gäste eventuell mehr und andere weniger geeignet sind.

5.            Disputation

In diesem Teil tragen Sie Ihre Lösung vor, das heißt, Sie beschreiben sie detailliert. Diesen Teil können Sie aus der Fallstudie ausgliedern und in einem separaten „Lösungsdokument” beschreiben. Sie haben dabei alle Freiheiten, Sie müssen nur darauf achten, dass Sie das in der Fallstudie herangezogene Beispiel nicht aus den Augen verlieren. Verweisen Sie auf die Fallstudie und fügen Sie die „Highlights” Ihrer Lösung in die Fallstudie ein.

6.            Kollation

In der letzten Phase Ihrer Fallstudie ziehen Sie einen Vergleich zwischen der Vergangenheit und dem Ist-Zustand, das heißt, hier schreiben Sie Ihre Erfolgsgeschichte. In diesem Abschnitt können Sie auch die zukünftig geplanten Schritte kurz vorstellen. Das könnte zum Beispiel so aussehen:

Durch die Neuübersetzung und Anpassung an die kulturellen Gegebenheiten des Ziellandes konnte die Anzahl der eingehenden Anfragen deutlich reduziert werden. Die bisher mit den Anfragen beschäftigten Mitarbeiter konnten ihre eigentlichen Aufgaben besser erfüllen, auf das zur Bearbeitung der Anfragen zusätzlich eingestellte Zeitpersonal konnte verzichtet werden. Dies führte zu Einsparungen bei den Personalkosten des Kunden und Verbesserungen im Service.

Die Kundenzufriedenheit ist seit der Veröffentlichung der neu übersetzten Webinhalte und des Informationsmaterials erheblich gestiegen, das Unternehmen erhält deutlich bessere Bewertungen auf den einschlägigen Portalen, konnte die Anzahl seiner Stammgäste steigern und einen wichtigen Reiseveranstalter als Vertragspartner gewinnen.

Das Unternehmen plant, sein deutschsprachiges Angebot in näherer Zukunft zu erweitern und damit seinen Marktanteil weiter zu vergrößern.

Wenn Sie einen echten Fall aus Ihrer Praxis zugrunde gelegt haben, können Sie hier – nach Rücksprache mit Ihrem Kunden – anbieten, den Kontakt mit diesem Kunden herzustellen.

Eine Fallstudie ist kein Angebot, Ihr Honorar muss „draußen bleiben”. Das verhandeln Sie ohnehin noch nicht, es geht hier noch darum, den Kunden neugierig zu machen, Sie wollen ihn ködern. Sie haben ihm angeboten, eine kostenlose Analyse seiner Webseite zu erstellen (das fließt ggf. später in Ihr Honorar ein) und ihn gerne zu beraten. Dazu werden Sie sich in beispielsweise zwei Wochen wieder bei ihm melden.

Während Sie dem Kunden Zeit lassen sich mit der Problematik zu befassen, sollten Sie sich gut auf seine Fragen und Einwände vorbereiten. Das nächste Gespräch kann zu Ihrem Auftrag führen – und Sie haben einen neuen, renommierten Direktkunden gewonnen.

Fallstudien sind natürlich nicht auf Hotelbetriebe beschränkt. Sie können Sie auf jedes beliebige Fachgebiet anwenden. Mit der Fallstudie zeigen Sie dem Kunden, dass Sie Experte auf Ihrem Gebiet sind, dass es eine für ihn maßgeschneiderte Lösung seines Übersetzungsproblems gibt und Sie ihn durch gesamten Prozess hindurch professionell begleiten und beraten können.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg!


[1] Phasen der Fallstudie nach Hoffmann, B.; Langefeld, U. (1998): Methoden-Mix, Seite 67-68