Kri|tik, Substantiv, feminin

Kritik löst immer die unterschiedlichsten Gefühle aus, leider sind die wenigsten davon positiv. Sie reichen von ungläubigem Staunen über Empörung bis hin zu Frust und nackter Wut. Die von einer Kritik ausgelösten Gefühle sind so unterschiedlich wie die geäußerte Kritik, ihre Intention und nicht zuletzt ihre Wahrnehmung durch den Empfänger. Was der eine mit einem Lächeln ignoriert, bringt den anderen auf die sprichwörtliche Palme und lässt einen Dritten ernsthaft an sich selbst zweifeln.

Doch was ist Kritik eigentlich und was will sie? Der Duden nennt „beanstanden” und „bemängeln” als Synonyme[1] und doch reagieren wir anders auf eine Beanstandung oder eine Bemängelung als auf Kritik. Dabei ist jede Kritik immer auch eine Beanstandung, immer ein Bemängeln und immer konstruktiv – auch wenn das nicht auf den ersten Blick erkennbar ist.

Kritik ist die Form des Feedbacks, die jeder zu vermeiden sucht und doch die beste Rückmeldung ist, sofern sie sachlich bleibt. Auch sachliche, konstruktive Kritik kann negativ aufgefasst werden, die mit dieser Kritik verbundenen Hinweise und Vorschläge werden abgelehnt und/oder ignoriert. Kritik kann zu einem Konflikt führen oder einen schon vorhandenen, unterschwelligen Konflikt sichtbar machen. Diese Konflikte beruhen zum Beispiel auf unterschiedlichen Zielvorstellungen, Wahrnehmungen oder sind zwischenmenschlicher Natur – die Chemie stimmt einfach nicht.

Die einfachste Lösung in einem solchen Fall ist, einem spontanen Gedanken nachzugeben und die Zusammenarbeit einzustellen. Aber wollen Sie das wirklich? Im ersten Moment nach dieser Entscheidung fühlen Sie sich wahrscheinlich als Sieger – und sind es sicher auch in einigen Fällen. Doch manchmal lohnt es sich, dem Konflikt und/oder der Kritik zu begegnen.

Die erste Regel bei Kritik ist zugleich die schwerste, denn sie verbietet jede spontane Verteidigung: Bleiben Sie ruhig. Wird die Kritik schriftlich geäußert, brauchen Sie nur dem Wunsch, sofort eine Antwort abzuschicken, zu widerstehen: Schreiben Sie Ihre Antwort, lassen Sie Ihren Gefühlen dabei freien Lauf, aber schicken Sie sie auf keinen Fall ab. Mündlich geäußerte Kritik verlangt einiges an Selbstbeherrschung: Antworten Sie nicht sofort, hören Sie aktiv_zu und machen Sie sich nach Möglichkeit Notizen. Ihren Gefühlen können Sie zum Beispiel mit Zeichnungen, Kritzeleien, dem Zerknüllen von Zetteln oder dem Kneten eines Balls freien Lauf lassen. Antworten Sie zeitnah, aber niemals spontan. Bitten Sie im Zweifel darum, sich Zeit für eine Überprüfung Ihrer Übersetzung nehmen zu können und nennen Sie einen Termin, bis zu dem Sie Ihre Antwort an den Kunden senden.

Fragen Sie nach. Sobald sich die Wogen etwas geglättet haben, bitten Sie Ihren Kritiker, seine Kritikpunkte gegebenenfalls zu konkretisieren und/oder zumindest Beispiele zu geben. Diese Punkte sind die Basis für Ihre Lösung: Erarbeiten Sie keine Verteidigung, sondern begründen Sie Ihre Wahl. Wenn es sich beispielsweise um Ihnen unbekannte Präferenzen des Kunden handelt, können Sie ein Abstimmungsgespräch vor dem nächsten Übersetzungsprojekt vorschlagen oder anbieten, die Terminologiepflege für den Kunden zu übernehmen. Versuchen Sie, zu einem für beide Seiten positiven Ergebnis zu kommen.

Versetzen Sie sich in den Kritiker. Das ist einfacher geschrieben als getan, wahrscheinlich sind Sie ihm nie persönlich begegnet und kennen seinen Alltag nicht. Und doch kann dieser Seitenwechsel helfen, wenn es darum geht, unsachliche Kritik zu entschlüsseln. Ruhig zu bleiben, ist in diesem Fall ganz besonders wichtig, begeben Sie sich nicht auf die unsachliche Ebene Ihres Kritikers. Nehmen Sie seine Kritik zu Kenntnis, beenden Sie das Gespräch sachlich und höflich oder schließen Sie die E-Mail. Antworten Sie auf keinen Fall, sondern tun Sie jetzt bitte alles, was Ihnen guttut. Wenn Sie wieder in der Lage sind, sich mit dieser unsachlichen, eventuell verletzenden Kritik sachlich auseinanderzusetzen, versuchen Sie, in die Rolle Ihres Kritikers zu schlüpfen und überlegen Sie, was Sie zu einer solchen Kritik veranlassen könnte. Manchmal ist die Ursache ein simples Kommunikationsproblem oder ein Irrtum, ein Missverständnis, und kann geklärt und zukünftig leicht vermieden werden. Schreiben Sie keine E-Mail, klären Sie diese Situation in einem Gespräch mit Ihrem Kunden.

Überprüfen Sie Ihr Selbstbild. Der möglicherweise schwierigste Schritt, denn er kann bedeuten, sich eingestehen zu müssen, dass man seine Fähigkeiten und/oder Kenntnisse überschätzt hat. Dieser Schritt fällt den meisten Menschen zunächst schwer, er rüttelt an unserem Selbstvertrauen und Selbstverständnis. Er kann jedoch auch ganz neue Möglichkeiten eröffnen und in jedem Fall Hinweise auf Bereiche geben, in denen die vorhandenen Kenntnisse noch erweitert oder vertieft werden können.

Kritik ist Feedback. „Die Leute bitten um Kritik, aber sie wollen nur gelobt werden” schrieb William Somerset Maugham 1915 in Der Menschen Hörigkeit[2]. Dieser vor über 100 Jahren geschriebene Satz fasst perfekt zusammen, weshalb im professionellen Umfeld geäußerte Kritik besonders schmerzhaft sein kann. In jeder gelösten Aufgabe steckt das gesamte berufliche Wissen und Können, die gesamte, bis dahin gesammelte Erfahrung, eventuelle Kritik wird deshalb möglicherweise nicht als Kritik am Ergebnis dieser einen Aufgabe, sondern als Angriff auf die eigene Person wahrgenommen. Bleiben Sie ruhig und auf der Sachebene, schauen Sie sich Ihre Lösung (Ihre Übersetzung) noch einmal in Ruhe an und hinterfragen Sie die kritisierten Punkte. Kritisches Feedback bedeutet nicht zwingend, dass Sie einen Fehler gemacht haben!

Kritik bildet immer ein Problem, manchmal auch einen Konflikt ab. Sie um jeden Preis vermeiden zu wollen, verstärkt den Konflikt zumindest auf Ihrer Seite, da sich früher oder später ein Gefühl der Unterlegenheit einstellen wird. Sich an den vermeintlich Stärkeren anzupassen, bedeutet Verzicht auf Ihrer Seite, den Sie wahrscheinlich nicht dauerhaft hinnehmen wollen. Die Auseinandersetzung mit Kritik erfordert Mut, Disziplin, Selbstvertrauen und Geduld mit sich selbst und dem Kritiker. Die Ursache der Kritik wird sichtbar, das eigentliche Problem wird greif- und lösbar. Aus völlig unterschiedlichen Standpunkten kann eine gemeinsame, neue Lösung entstehen. Es entsteht letztendlich Vertrauen, das zu einer langen Geschäftsbeziehung führen kann.

Ich wünsche Ihnen viel Gelassenheit im Umgang mit Kritik!


[1] http://www.duden.de/rechtschreibung/Kritik#Bedeutung1b

[2] Of Human Bondage, 1915 erstmals erschienen bei Heinemann, London, und George H. Doran Company,New York, deutsche Fassung von Renate Seiller, erschienen 1939, Rascher Verlag Zürich und Leipzig.